Thursday, August 12, 2010

Federn auf den Flügeln und Sprung aus dem Nest. Strikt für Studenten



Gia Edzgveradze

Federn auf den Flügeln und Sprung aus dem Nest. Strikt für Studenten

Die Empfängnis geschieht rasch, und im Nest ist es vergnüglich, aber das Wachsen der Federn an den Flügeln ist für das Junge ein langer, schmerzhafter Prozess. Um das Wunder des Fliegens zu erfahren, verlässt das Vogeljunge beim ersten Mal todesmutig das Nest. Wenn die Federn wachsen, durchstoßen sie die Haut und verletzen die Muskeln. Die Geburt, das Fliegen – es sind alles Schritte ins Ungewisse und gelingen deshalb nur durch Überwindung, durch Anstrengungen, die nicht angenehm sind, weil es sich stets um einen Weg ins Nirgendwo, vielleicht sogar ins Nichts handelt. Er führt ins Nichts, in jenes wunderschöne Nichts, das den Künstler und Räuber, den Dichter und Abenteurer, den Soldaten auf dem Schlachtfeld und den Faulpelz am Mittag so anlockt. Es ist das Nichts, das sich als Musikform aus jeglichem Kunstwerk herauslesen lässt und das für den einfachen Sterblichen dann beginnt, wenn sich ihm zum ersten Mal der Irrtum offenbart, jener verhängnisvolle Irrtum, der ihn eben zum einfachen Sterblichen gemacht hat.
„Ich bin viele Male gestorben und habe deshalb Unsterblichkeit erlangt“, sagt Antonin Artaud. Sterben in diesem Kontext sind Spasmen globaler Misserfolge und große, gewaltige (!) Fragezeichen – darin stirbt man fruchtbar.
All dies gilt für die Studenten, denn sie wissen ja nicht, dass sie durch Finsternis und (Platons) Höhlen gehen, denn sie schlagen im Schreck des ersten Fluges so schnell mit den Flügeln, dass sie nicht nur nicht bemerken, wie sie schon fliegen, sondern auch nicht einmal den Schmerz von den zahllosen Federn wahrnehmen, die in ihre schönen, jungen Körper eingedrungen sind. Sie wissen nicht, dass jeder Schmerz von jeder Feder die Garantie für den künftigen Flug ist. All das werden sie erst später verstehen, wenn sie schon fliegen, vielleicht aber auch nicht, doch dann werden sie sich in jedem Fall schon von der Erde gelöst haben.
Idealisieren wir? Ja, aber dies verleiht Kraft und bringt Helden der poiesis hervor, wie Heidegger sagen würde. Er nennt die Verwandlung der verpuppten Raupe in einen flatternden Schmetterling poiesis. Künstlerisches Schaffen ist die edelste und (im wahren Grunde) bescheidenste Form der Poiesis, deshalb sind alle übrigen Charaktereigenschaften des künstlerischen Schaffens, die die Form betreffen, ganz unwesentlich – in der Poiesis organisiert die Form sich selbst, sie benötigt keine Anstrengung, sie ereignet sich einfach! Ereignet sie sich aber nicht, sondern wird sie gemacht, dann liegt keine Poiesis vor. In diesem Ereignis wird Reden zu Erzählen, und in diesem Erzählen hebt nicht Finsternis, sondern Licht das Gesetz auf, das einst Wissen, Erklärungen und Berechnungen gefordert hat. Diese gesegnete Gesetzlosigkeit ist eben jene Offenheit, die der Dichter mit dem Nichts assoziiert. In dieser Gesetzlosigkeit findet das Ereignis des künstlerischen Schaffens statt. So lernt der Student, ein Räuber zu sein, ein boshafter, gehässiger, stinkender, fürchterlicher Räuber, aber nie mehr der Mensch, als der er auf der Welt erschienen und geschult worden ist. Er wird ein anderer werden als der, zu dem man ihn hingeführt hat, als der, der er hatte sein wollen, denn wie schon gesagt: Die Poiesis ist unvorhersehbar, sie ereignet sich wie das wirkliche künstlerische Schaffen – wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Hier gibt es nichts zu lehren; die dunklen Höhlen sind voller Glühwürmchen, die jedoch keinesfalls Licht sind und an denen man sich nicht orientieren darf – wenn das Licht kommt, sind sie nämlich nicht mehr da. Ihr Licht war kein Licht, es hat nur von etwas gezeugt, was es selbst nie war – so auch das Wissen: Es führt uns nur zur kostbarsten Grenze, zur Verzweiflung, da es das Absurde aufdeckt und uns zum Sprung aus dem Nest verhilft – ins Nirgendwohin der Freiheit, in weite Offenheit und Entblößtheit, ins Licht. Dies ist keine Metaphysik – entblößt wird, was wir wahrnehmen, aber nie gesehen haben.

Der Künstler als Engel der Freiheit? Als Soldat der Ewigkeit?
All das klingt in unserer Epoche der falsch verstandenen Postmoderne provinziell und vollkommen uncool! Aber wenn ihr nicht wisst, dass Andy Warhol ein großer Springer war, dann kommt zu mir. Ich werde euch die Wahrheit über ihn erzählen, über seine Federn, so prächtig und bunt, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. (Je stärker die Federn nämlich in den Körper eindringen, und je tiefer sie ihn verwunden, um so farbenprächtiger und schöner sind sie.) Ich werde euch von seinem Sprung berichten, von seinem Nichts, das er in Etwas verborgen hat. Er verkaufte und leimte damit die Welt, beschenkte sie aber zugleich.
Um zu fliegen, braucht man also Federn an den Flügeln, und beim Sprung helfen keine Galerien und einflussreichen Bekannten (Kuratoren, Sammler usw. usf.), sondern man muss an die äußerste Grenze gehen und sich in das Absurde verlieben – das gilt auch für die (begabten) Studenten.

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